Der ideale Stoff für Neugierige: Gustav Mahlers Siebte Sinfonie, mit der Riccardo Chailly und sein Lucerne Festival Orchestra den Festspielsommer eröffnen, gibt Rätsel auf. Nachtschwarz und pessimistisch beginnt sie, mit ostentativem Optimismus und überschwänglichem Jubel schliesst sie. Wie passt das zusammen? Mahler ging es darum, mit seinen Sinfonien eine Welt aufzubauen — und dazu gehören die hellen wie die dunklen Seiten des Lebens. Deshalb präsentiert er in der Siebten unerbittliche Marschrhythmen genauso wie paradiesische Visionen. Er lässt die Gespenster hämisch kichern und schwelgt gleich danach in Walzerseligkeit. Die schwarze Romantik kommt im Totentanz des Scherzos zum Einsatz, doch dann ertönen im «Andante amoroso» süsse Liebesstimmen, zart begleitet von Harfe, Mandoline und Gitarre. Im Finale zieht Mahler schliesslich alle Register des Pompösen und Festlichen: mit einer Paukenintrada und Fanfaren, einem Jubelchoral und Glockengeläut. Das Lucerne Festival Orchestra ist seit seiner Gründung vor über zwanzig Jahren ein Mahler-Orchester ersten Ranges. Mehr als hundert Mitwirkende bieten ein Spektakel für die Ohren. Und viel zu sehen gibt es natürlich auch.
Programm
Streich | Mahler
Zwei Stars aus dem hohen Norden geben sich ein Stelldichein. Am Pult des Lucerne Festival Orchestra ist erstmals der 28-jährige Finne Klaus Mäkelä zu erleben. Im letzten Sommer debutierte er fulminant mit dem Oslo Philharmonic beim Festival: «Mäkelä zeigt allen, wie man dirigiert», befand Christian Wildhagen in der Neuen Zürcher Zeitung und staunte, wie bei diesem Maestro «die Musik glüht und leuchtet, ohne in formloses Schwärmen auszuufern». Freuen darf man sich aber auch auf den norwegischen Pianisten Leif Ove Andsnes, der das folkloristisch gefärbte Klavierkonzert seines Landsmanns Edvard Grieg vorträgt. Andsnes verbinde «meisterhaft Eleganz, Kraft und Erkenntnis», erteilte ihm die New York Times den Ritterschlag. Heimliche Hauptstadt des Abends aber ist Leipzig, wo Grieg ab 1858 studierte und damals auch Robert Schumanns Klavierkonzert zu hören bekam, gespielt von dessen Witwe Clara. Schumann selbst ist mit seiner Zweiten Sinfonie vertreten, die 1846 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt wurde, mit Felix Mendelssohn als Dirigent. Und der ist auch als Komponist dabei und eröffnet mit der aufwühlenden Hebriden-Ouvertüre ein rundum romantisches Programm.
Programm
Mendelssohn | Grieg | Schumann
Den anderen genau zuhören, ihre musikalischen Impulse aufgreifen, sie fortspinnen und darauf antworten: Das ist ein Schlüssel zum Erfolg des Lucerne Festival Orchestra. Nirgendwo lässt sich dieses Prinzip besser entwickeln als in der Kammermusik. Das war schon Claudio Abbado, dem Gründer des Orchesters, besonders wichtig: «In Luzern kommen jedes Jahr ganz neue und teilweise ungewöhnlich besetzte Ensembles zusammen, die dann eigene Programme erarbeiten und sie im grossen Konzertsaal vorstellen.» Im Sommer 2024 haben sich die Blechbläser*innen um den Trompeter Reinhold Friedrich und den Posaunisten Jörgen van Rijen zusammengetan, um festliche, meditative oder auch schmissige Werke vom Barock bis zur Gegenwart aufzuführen. Und dabei lässt sich so allerlei entdecken: etwa ein Triumphmarsch aus dem Zeitalter Napoleons von Louis Vierne oder ein Hoketus, eine Satztechnik aus dem Mittelalter, die der Komponist Enjott Schneider aufgegriffen hat. Am Ende der Matinee aber geht es ganz klassisch zu, mit Wolfgang Amadé Mozart und seinem Oboenquartett, das mit seinem glanzvollen und hochvirtuosen Oboenpart an ein verkapptes Solokonzert erinnert.
Programm:
Bach | Mozart | Vierne | Schnittke u.a.
In ihrem ersten Konzert des Sommers blickt die Lucerne Festival Academy zurück und voraus. Wir zeigen einen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm Inheriting the Future of Music, der den Academy-Gründer Pierre Boulez an seiner Luzerner Wirkungsstätte portraitiert. Ausserdem stehen Werke von Boulez und Wolfgang Rihm, dem aktuellen Künstlerischen Leiter der Academy, auf dem Programm. Wir stellen Ihnen aber auch unsere beiden diesjährigen composers-in-residence vor: Beat Furrer erkundet in einem Kontrabass-Solo mit Live-Elektronik die tiefen Register. Und die Schwedin Lisa Streich, die als «Roche Young Commissions»-Preisträgerin einst entscheidende Impulse durch die Academy empfing, spürt der Lyrik des Mechanischen nach, indem sie das Klavier mit selbstgebauten elektrischen Geräten präpariert. Gestaltet wird das Geburtstagskonzert von den Lucerne Festival Contemporary Leaders, allesamt Absolvent*innen der Academy und ihr heute als Coaches eng verbunden. Zu ihnen zählt auch die litauische Komponistin und Performerin Raimonda Žiūkaitė, die als «Geburtstagsständchen» ein neues Werk für Tuba und Stimme beisteuert.
Programm:
Rihm | Boulez | Streich | Furrer | Žiūkaitė
Wie alles anfing — und wie es endete. In der neuesten Folge ihres Rachmaninow-Zyklus koppeln Riccardo Chailly und das Lucerne Festival Orchestra die ersten Werke des russischen Komponisten mit seinem Opus ultimum. Die Reise beginnt 1890/91, als der nicht einmal 18-jährige Rachmaninow mit seinem Ersten Klavierkonzert eine beachtliche Visitenkarte vorlegte: Romantischer Überschwang à la Grieg und Tschaikowsky trifft hier auf intellektuelle Übersicht, reiche Erfindung auf eine packende Dramaturgie. Zur selben Zeit versuchte er sich auch an einer ersten Sinfonie, die jedoch über einen einzigen Satz nicht hinausgelangte. Den allerdings sollte man gehört haben! Als Rachmaninow 1940, drei Jahre vor seinem Tod, mit den grandiosen Sinfonischen Tänzen eine Lebensbilanz zog, zitierte er auch sein frühes Schaffen. Der Kreis schliesst sich, und siehe da: Anfang und Ende haben mehr miteinander zu tun, als man meinen sollte. Solist des Abends ist der erst 22-jährige Alexander Malofeev. Riccardo Chailly ist hingerissen von seinem Talent und attestiert ihm neben brillanter Technik auch eine musikalische Tiefe und Reife, wie er sie nur selten erlebt habe.
Programm:
Rachmaninow
Yannick Nézet-Séguin räumt mit einer alten Mär auf: der Behauptung, dass es in der Musikgeschichte keine erstrangigen Komponistinnen gegeben habe. 2022 stellte er bei Lucerne Festival die Afroamerikanerin Florence Price vor, 2023 die früh verstorbene Französin Lili Boulanger — und nun ist die deutsche Romantikerin Clara Schumann an der Reihe, mit ihrem Ersten Klavierkonzert, das sie mit dreizehn in Angriff nahm. Die Italienerin Beatrice Rana, die im letzten Sommer mit Rachmaninows Paganini-Rhapsodie für Aufsehen sorgte, ist die ideale Pianistin für dieses furiose Frühwerk. Ihre Einspielung mit Nézet-Séguin, die kürzlich herauskam, sei die bisher «beste Interpretation» des Konzerts, hiess es im Bayerischen Rundfunk. Nézet-Séguin gilt als «musicians’ conductor», als Dirigent, der das Herz der Musiker*innen erreicht und sie zu Höchstleistungen beflügelt. Das bewies er auch schon mit dem Lucerne Festival Orchestra, zuletzt bei einer bewegenden Aufführung der Achten Sinfonie von Anton Bruckner, die Dringlichkeit mit überwältigender Klangschönheit verband. Die Fortsetzung gibt es nun mit der Siebten in E-Dur: Was für ein Geschenk zum 200. Geburtstag des Komponisten!
Neugier ist der Motor der Musikgeschichte, das zeigt diese Tour d’Horizon des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Mit seinen Fünf Orchesterstücken op. 16 wagte Arnold Schönberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Schritt in die freie Atonalität: zu einem expressiv verdichteten «Wechsel von Farben, Rhythmen und Stimmungen». Vom Klang aus denkt auch composer-in-residence Lisa Streich: Ishjärta (zu Deutsch «Eisherz»), uraufgeführt im vergangenen Sommer von den Berliner Philharmonikern, changiert zwischen warm pulsierenden Texturen und eisig erstarrten Harmonien. Hinzu kommen Werke zweier Zentralgestirne der Lucerne Festival Academy. Wolfgang Rihm komponierte In-Schrift für den Markusdom in Venedig und versuchte seiner Musik den berühmten Sakralraum «einzuschreiben» — mit Glocken, Choralanklängen und einer dunkel leuchtenden Besetzung ohne hohe Streicher. Eine sakrale Aura evoziert auch Pierre Boulez’ Rituel in memoriam Bruno Maderna, eine seiner suggestivsten Partituren: Zum regelmässigen Puls der Schlagzeuger entfalten acht Orchestergruppen eine «Zeremonie der Erinnerung», so Boulez.
Programm
Schönberg | Streich | Rihm | Boule
In der Literatur, der Malerei und der Musik sind die Jahreszeiten ein beliebtes Thema. Aus gutem Grund: Sie prägen unser tägliches Leben, lassen sich anschaulich ins Bild setzen — und ebenso plastisch in Töne. Die wohl berühmteste Jahreszeiten-Vertonung stammt von Antonio Vivaldi: Vor rund 300 Jahren veröffentlichte der italienische Barockkomponist vier unverwüstliche Violinkonzerte, eines für jede Jahreszeit. Und tatsächlich ist hier so einiges zu hören an Wetter- und anderen Naturphänomenen: Im Frühling zwitschern die Vögel um die Wette, im Sommer donnern gewaltige Gewitter übers Land. Im Herbst geht’s zur Weinernte und auf die Jagd, im Winter — darauf war zu Vivaldis Zeiten noch Verlass — rieselt leise der Schnee. Auch quakende Frösche, bellende Hunde und umhersummende Mücken haben ihren Auftritt. Unter der Leitung seiner beiden Konzertmeister musiziert das Lucerne Festival Orchestra diesen Evergreen als sonntägliches Musikvergnügen für alle Generationen: kurz und gut, unterhaltsam und berührend. Das ideale Konzert zum Einstieg in die Welt der Klassik.
Programm:
Vivaldi
Morton Feldman dachte gross: Mehrere Stunden können Aufführungen seiner Werke dauern. Dagegen nimmt sich Coptic Light, sein letztes, knapp 30-minütiges Orchesterstück, fast schon wie eine Petitesse aus. Und entfaltet gleichwohl eine geradezu hypnotische Sogwirkung: Angeregt durch frühe koptische Webkunst im Pariser Louvre, knüpft Feldman einen sanft wabernden Klangteppich aus zahllosen Stimmen und Motiven, die sich überlagern, sich gegeneinander verschieben und immer neue Licht- und Farbwirkungen hervorrufen. Weshalb Markus Güdel die Aufführung um eine veritable Lichtinszenierung ergänzen wird. Beat Furrer hat sich Coptic Light ausdrücklich für seine Luzerner Residenz gewünscht — und stellt Feldmans tranceartiger Slow-Motion-Musik eine eigene Uraufführung zur Seite. Ausserdem dirigiert er ein neues Trompetenkonzert, das zeigt, wie nachhaltig die Arbeit der Lucerne Festival Academy ist: Sowohl die Komponistin Lisa Streich als auch der Solist, Opus-Klassik-Preisträger Simon Höfele, erhielten einst wichtige Impulse in der Academy.
Der Brite Sir George Benjamin ist nicht nur einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, sondern auch ein grossartiger Dirigent. Weshalb wir ihn in beiden Rollen zum Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) eingeladen haben. Aufführen wird Benjamin mit den jungen Musiker*innen zwei gänzlich verschiedene Konzerte: Der US-Amerikaner Andrew Norman hat ein neues Posaunenkonzert für Jörgen van Rijen komponiert, der eigentlich Soloposaunist des Lucerne Festival Orchestra ist, an diesem Abend aber einen «Seitensprung» wagt. In Benjamins eigenem Concerto for Orchestra aus dem Jahr 2021 dagegen ist das Orchester selbst der Star: Es tanzt und schwelgt, alle Instrumentengruppen dürfen zeigen, was sie können, und immer wieder treten einzelne Musiker*innen mit brillanten Soli hervor. «Dieses Stück ist das Virtuoseste, was ich seit langem komponiert habe», so Benjamin. Als Fest der Klangfarben erweist sich auch Hans Abrahamsens ebenfalls 2021 uraufgeführtes Orchesterstück Vers le Silence, dessen vier Sätze zur Stille als dem Zielpunkt aller Musik streben.
Vier starke weibliche Stimmen! In Semafor, einer ihrer letzten Partituren, entwickelt die 2023 verstorbene Finnin Kaija Saariaho aus «obsessiven Oktavklängen» und «Glissando-Schreien» ein farbenfrohes Geschehen, turbulent «wie eine belebte Kreuzung in Manhattan zur Rushhour» (New York Classical Review). Ausserdem lernen Sie drei Komponistinnen der jungen Generation kennen: Die Chinesin Yang Song möchte volksmusikalische Elemente in eine zeitgenössische Tonsprache überführen und liess sich dabei vom Obertongesang der Xhosa in Südafrika anregen. Hannah Kendall, Britin mit südamerikanisch-karibischen Wurzeln, thematisiert das Leid der Afrodiaspora, indem sie den Ensembleklang um Walkie-Talkies und Musikboxen erweitert: Neben Bibelversen hören wir bekannte Melodien von Mozart, Beethoven & Co., die zur Zeit der Plantagensysteme komponiert wurden. Die Iranerin Elnaz Seyedi schliesslich konfrontiert in frames II massive Tutti-Akkorde mit kammermusikalischen Passagen, in denen die Interpret*innen grosse gestalterische Freiheit erhalten: «Die Fantasie überlebt, sogar innerhalb eines stark hierarchisch strukturierten Systems, und hat die Kraft, das System zu verändern.»